«Mein Interesse, als Person im Zentrum zu stehen, ist klein.»

Jacqueline Fehr ist ein Medienprofi. Die Aussagen zum Wahlkampf um den frei werdenden Regierungsratssitz kommen druckreif. Weniger gern spricht Fehr über Privates. Zu Unrecht, wie sich zeigte.

von Tanja Polli, freischaffende Journalistin

Bahnhof Winterthur. Ein eiskalter Morgen. Der Himmel ist noch schwarz. Graue Schneehügel glitzern im fahlen Licht der künstlichen Beleuchtung. Die Sozialdemokraten verteilen mit klammen Fingern Brötchen an Pendler. Jacqueline Fehr steht seit zwei Stunden im eisigen Wind. Die Leute sagen: «Man findet keine Wohnung mehr» und «bald auch keinen Job mehr.» Fehr hört zu, nickt, lächelt und versucht, sich die kalten Hände warm zu reiben. Dass sich die Politikerin selber «vom Typ her eher als Einzelgängerin» beschreibt, nimmt man ihr an diesem Wintermorgen nicht ab.

«So viele Lebensrealitäten in so kurzer Zeit», sagt Fehr später bei einem Cappuccino, «das ist enorm wertvoll». Sie nimmt sich Zeit für ihre Antworten. Sie plaudert nicht, sie spricht. Jeder Satz ein Statement. Zu lange ist sie im Geschäft, als dass sie den Filter im Kopf einfach deaktivieren könnte. «Solche Standaktionen», sagt sie, «zwingen einem, zur Kenntnis zu nehmen, was den Leuten Sorgen bereitet». Die Migration zum Beispiel. Die Angst abgehängt oder verdrängt zu werden in einer Welt, die sich immer schneller dreht. Die Furcht davor, plötzlich selber zu jenen zu gehören, die man heute ächtet: zu den Armen, Arbeitslosen, Sozialhilfebezügern. Diese Bedenken gelte es ernst zu nehmen, sagt Fehr. Sie sagt diesen Satz nicht zum ersten Mal.

Man spüre sie als Mensch nicht, sagen andere über sie. «Mein Interesse, als Person im Zentrum zu stehen, ist klein», sagte sie zu anderen. Und ja, die Antworten zu ihrer politischen Agenda beantwortet sie routinierter als jene zur eigenen Biografie. Dies obwohl letztere durchaus bemerkenswert ist. Fehr ist eine soziale Aufsteigerin. Eine Vertreterin der ersten Generation in der gehobenen Mittelschicht. «Sie hat die Hände zu oft in den Hosensäcken», hiess es hinter vorgehaltener Hand, nachdem Fehr 2012 bei der Bundesratswahl ihrer Genossin Simonetta Sommaruga unterlegen war. «Heisst übersetzt», sagt Fehr und nimmt einen Schluck aus der grossen Kaffeetasse, «ich werde immer ein wenig fremd bleiben in diesen Kreisen.»

Jacqueline Fehr wurde 1963 geboren. Sie hat einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Ihre Mutter ist als Halbwaise aufgewachsen. Fehrs heutiges Engagement für administrativ Verwahrte und Verdingkinder kommt nicht von ungefähr. Nur weil die Grossmutter die Familie selber durchbrachte – sie fand Arbeit in einem Industrieunternehmen –, wurden ihr die Kinder nicht weggenommen.

Als Kind, sagt Fehr, habe sie nie darunter gelitten, in sogenannt einfachen Verhältnissen zu leben. Ihre Freundinnen seien die Töchter von Gastarbeitern gewesen. «Wir hatten alle nicht viel.» Ihre Mutter nähte als Damenschneiderin zuhause für ihre Kundschaft, der Vater schaffte es auch ohne Lehre, sich vom Chauffeur zum Lagerchef hochzuarbeiten und die Familie über die Runden zu bringen. Viel hatten sie nicht, aber für Skiferien im bündnerischen Feldis reichte es. Ohne Skilift zwar, aber doch. Erst als der Primarlehrer riet, das aufgeweckte Mädchen mit den roten Locken an die Gymiprüfung zu schicken, wurde die Herkunft zur Hypothek.

An den ersten Schultag in Winterthur erinnert sich Fehr genau. «L» stand auf dem grossen Stundenplan und sie hatte keine Ahnung, wofür der Buchstabe stand. «Ich fragte nicht», sagt sie plötzlich nachdenklich, «ich spürte, dass man das wissen sollte.» Es dauerte mehrere Wochen, bis sich das Rätsel um das L für Latein definitiv gelöst hatte. Weitere Rätsel sollten folgen. «Heute würde man sagen, ich sei in einem bildungsfernen Umfeld aufgewachsen», sagt sie. Was nicht heisse, dass ihre Mutter den Wert einer guten Ausbildung nicht gesehen hätte. Sie suchte sich einen Zusatzverdienst , als das Geld für die teuren Schulbücher nicht mehr reichte. Stipendien kamen für die Fehrs nicht in Frage. «Wenn wir es nicht schaffen, diese Bücher zu bezahlen», sagte die Mutter, «dann ist diese Schule nichts für unsereins.»

Im Konfunterricht zuhause in Elgg nannte der Pfarrer die Gymischülerin fortan «die Gescheite». Sie schämte sich abgrundtief. «Alles was ich wollte, war weiterhin dazuzugehören im Dorf, nicht anders zu sein als die anderen.» Sie engagierte sich noch stärker als vorher im Turnverein, begann zusätzlich Volleyball zu spielen.

Fehr pendelte zwischen den Welten. Plante während der 1980er-Unruhen im Gymi Protestaktionen und leitete am Abend die Damenriege. Beim Bier danach musste sie sich anhören, was die Turner mit diesen Bonzenkindern auf der Strasse machen würden, wenn sie denn könnten. Fehr hielt dagegen, in der Stadt und auf dem Dorf. Sie erklärte ihren Klassenkameraden, warum es nicht sein kann, dass Kleingewerbler unter den Protesten leiden müssen, und später den Herren vom Turnverein, dass die Anliegen der Jungen durchaus berechtigt seien. Als Höhepunkt ihres «Doppellebens» bezeichnet Fehr den Tag, als sie am Morgen in violetten Kleidern am Frauenstreik teilnahm und am Nachmittag nach Luzern ans Eidgenössische Turnfest reiste.

Aurelio Soldini, ihr Volleyball-Trainer und damaliger Präsident der SP Elgg, erkannte das Potenzial der widerspenstigen Turnerin früh. «Du wirst einmal Bundesrätin», sagte er zu ihr und setzt eine Flasche Rotwein auf seine Vorhersage. Darauf ist er heute noch stolz, auch wenn Fehr 2012 die Wahl in den Bundesrat knapp verpasste. «Sie war schon als ganz junge Frau eine, die den Blick fürs Ganze hat», sagt der Gymnasiallehrer. Im Volleyball habe sie als Passeuse geschickt die Bälle verteilt, im Dorf habe sie vermittelt zwischen den Konservativen und jenen, welche im Dorf die erste Alusammelstelle organisierten. «Auch heute», sagt Soldini, der mit der Politik der SP «nicht mehr viel am Hut hat», bewundere er ihre Fähigkeit, ihren Grundsätzen treu zu bleiben und sich trotzdem ins Gegenüber einfühlen zu können. Wenn sie in den eigenen Reihen anecke, sagt Soldini, dann nur darum, weil sie sich nirgends scheue, zu sagen, was sie denke. Mit einigen SPlern springt er nicht gerade zimperlich um: «Auch in der SP gibt’s zu viele flachärschige Männer, die Angst kriegen, wenn eine Frau unbeirrt ihren Weg geht.»

Unbeirrt war erst einmal gar nichts. Nach der Matura jobbte Fehr beim Lokalradio und in der Redaktion des bürgerlichen Landboten. Die Berufsberaterin riet zur Seklehrerin. Fehr machte, wenn auch ohne Herzblut. Erst das Unterrichten im Zürcher Kreis 4 machte ihr Spass. «Prägende und schöne Jahre», sagt sie heute. In ihre Klasse gingen nur gerade zwei Schweizer Kinder. „Ich habe versucht, einen Rahmen des Vertrauens und der Verbindlichkeit zu schaffen. Und ich war klar und streng. Das wurde vor allem von jenen Kindern, die in sehr schwierigen Verhältnissen lebten, sehr geschätzt“, blickt Fehr zurück. Und brachte schulischen Erfolg. Vier Kinder haben es ins Gymnasium geschafft. Umso mehr schmerzt es Fehr, dass auch zwanzig Jahre später hierzulande immer noch in erster Linie die soziale Herkunft, nicht das Potenzial eines Menschen, über seinen Bildungsweg bestimmt.

1991 wird Fehr in den Kantonsrat gewählt, drei Jahre später wird sie zum ersten Mal Mutter, zwei Jahre danach kommt der zweite Sohn zur Welt. Fehr eröffnet kurzerhand eine eigene Krippe. 1998 rutscht sie in den Nationalrat nach. Ausser den Geburtsdaten ihrer Söhne hat Fehr wenig exakte Zahlen parat. Was vorbei ist, ist vorbei. Ihr Fokus liegt in der Zukunft, beim aktuellen Wahlkampf, all den Dingen, die sich bewegen liessen, sollte er denn das gewünschte Resultat erbringen. «Wann war das?», fragt sie sich immer wieder selber. «Nino und Tiemo waren ungefähr acht und zehn» beim Höhepunkt ihrer politischen Karriere, die Annahme der Mutterschaftsversicherung 2004. Kurz davor war es ihr gelungen, das Parlament davon zu überzeugen, Krippenplätze zu finanzieren. Bei beiden Vorlagen bewegte sie sich in gewohnter Manier in zwei Welten: Die Mutterschaftsversicherung boxte sie in Zusammenarbeit mit dem Gewerbeverband durch, die Krippenvorlage mit dem damaligen Präsidenten des Arbeitgeberverbands. Als Fehr 2009 von der Sonntagszeitung zur einflussreichsten Politikerin des Jahres gewählt wird, betitelt gut man die Winterthurerin als Netzwerkerin, deren Credo laute: «Wer nur seine Gesinnungsfreunde überzeugen kann, gewinnt nichts.» Da treffen sie sich wieder, das Turnfest und der Frauenstreik.

«Wenn nach einem harten Abstimmungskampf eine Mehrheit Ja sagt zu etwas, das so viel Solidarität einfordert wie die Mutterschaftsversicherung, ist das sehr befriedigend», sagt sie. Wohl nicht zum ersten Mal. Sie meint es tatsächlich so. Gegenüber der Presse sagte sie am Abend nach dem Abstimmungsgewinn: «Das ist der schönste Moment in meinem Leben.»

Heute lacht sie über den damaligen Überschwang. «Den schönsten Moment in meinem politischen Leben» würde sie aber durchaus stehen lassen. Sechs Jahre später kamen die Erfahrungen dazu, welche die heutige Vizepräsidentin der SP Schweiz wohl am anderen Ende der Skala einreihen würde: 2010 die knappe Niederlage in den Bundesratswahlen und zwei Jahre später die Ohrfeige der eigenen Fraktion. Die zieht ihr in der Wahl ums Fraktionspräsidium den amtsjungen Andy Tschümperlin vor. Fehr ist überrascht und geschockt. Ebenfalls verwirrte Journalisten machen zu forsches Auftreten verantwortlich, fehlende Sozialkompetenz.

Jacqueline Fehr, die sagt, sie habe eigentlich immer eine gewisse Distanz zu allem, was sie tue, weint. Um die verlorenen Möglichkeiten, aber auch, weil sie das Gefühl hat, einmal mehr mit dem Fremdsein in der Partei der «Bobos», der «bourgeoisen Bohémiens», die in der Deutschschweiz die SP prägen, konfrontiert worden zu sein.

Den Kleiderstil hat sie längst angepasst und von den hennaroten Haaren hat sie sich schon vor Jahren getrennt. «Aber es gibt Verhaltensweisen», sagt sie, «Wissenselemente, Codes, die man sich nicht einfach aneignen kann». Die Satzmelodie hat sich längst verändert. Es sind keine Sätze, die sie mit Routine bringt. «Meine Söhne werden einmal ganz selbstverständlich zu dieser gehobenen Mittelschicht gehören», sagt Fehr, «ich selber werde das vom Gefühl her nie ganz.» Sie habe immer wieder einmal gedacht: Ihr könnt schon so reden, mit eurer Familie im Rücken, der finanziellen Sicherheit, dem sozialen Status. «Mir hat dieses Fallnetz immer gefehlt, dieses Selbstverständnis, jemand zu sein, auch wenn es nicht läuft», sagt sie. «Das ist vielleicht einer der Gründe dafür, dass ich mich mit vielen Exponenten der bodenständigen rechten Ratshälfte gut verstehe, auch wenn wir politisch überhaupt nicht einig sind: Uns verbindet die Herkunft. Wir sprechen ein Stück weit dieselbe Sprache.» Der freisinnige Zürcher Stadtrat Andres Türler, der Fehr in den Verwaltungsrat von Energie 360° geholt hat, jedenfalls findet nur lobende Worte: «Ich schätze ihre kritischen Fragen sehr. Jacqueline Fehr sieht die ökologischen Aspekte genauso klar wie die ökonomischen, frei von Ideologie.» Dem bevorstehenden Wahlkampf um den Regierungsrat sieht Türler mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen. Er sei immer stolz, wenn jemand aus seinem Umfeld einen Karriereschritt mache, sagt er, «aber die Aussicht, sie im Verwaltungsrat zu verlieren, gefällt mir gar nicht.»

Noch ist es nicht so weit. Fehr fährt sich durchs kurze graue Haar, zieht den dicken Mantel an und geht wieder raus in den eiskalten Morgen. Zurück zu den Lebensrealitäten ihrer Wählerinnen und Wähler und zurück zu den Sätzen, die sie nicht zum ersten Mal sagt, aber durchaus so meint: In ihrer Antrittsrede zum Wahlkampf zur Regierungsratswahl klang das so: «Es kann manchmal lange dauern, bis man einen Erfolg feiern kann. Und man muss manchmal das Unmögliche wagen, um das Mögliche zu erreichen.»